Flagge von Europa vor einem Haus.

Föderaler Bundesstaat Europa? Wie die neue Bundesregierung die Europäische Union stärken will

17.03.2022

10 min

Fiene Kohn

Auf einen Blick

  • Die Bundesregierung möchte Deutschland und die EU noch mehr verflechten: zu einem föderalen europäischen Bundesstaat.
  • Das hat viele Vorteile, denn durch einen föderale europäischen Bundesstaat könnten globale Probleme besser gelöst werden, zB der Klimaschutz.
  • Allerdings ist das nicht so einfach: Jeder Staat ist einzigartig und möchte seine eigenen Entscheidungen treffen. Außerdem ist der Weg zu einem föderalen europäischen Bundesstaat ist unklar.
  • Viele junge Menschen engagieren sich für die EU und würden sich über eine Entwicklung in Richtung föderalen Bundesstaat Europa freuen.

Die neue Bundesregierung möchte sich dafür einsetzen die Europäische Union zu einem föderalen europäischen Bundesstaat zu machen. Das steht zumindest im Koalitionsvertrag. Aber: was ist das, warum gibt es Widerstand und wie möchte die Bundesregierung ihr Ziel erreichen?

Die Europäische Union heute

Die Europäische Union (EU) ist ein politischer und wirtschaftlicher Zusammenschluss von aktuell 27 Ländern, den sog. Mitgliedstaaten. Innerhalb der EU kann jeder Staat grundsätzlich tun und lassen, was er will. Einzelne Aufgaben überträgt er aber an die EU. Dieses Prinzip nennt sich Subsidiarität: die EU darf nur dann tätig werden, wenn die Mitgliedsstaaten ihr das auch explizit erlauben und die EU die Aufgabe besser erfüllen kann. Das Prinzip ist so wichtig, dass es in Art. 5 des EU-Vertrags niedergelegt ist. Dort steht auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: die EU darf nicht mehr machen, als nötig wäre, um die ihr übertragene Aufgabe zu erreichen. 

Warum ist die EU (noch) kein föderaler Staat?

Föderalismus heißt, dass sich mehrere kleine zu einem großen Staat zusammenschließen und trotzdem jeder kleiner Teil ein bisschen Eigenständigkeit behält. Auf die EU übertragen heißt das, dass die Mitgliedsstaaten der EU in allen Belangen untergeordnet wären, in bestimmten Bereichen aber eigene Entscheidungen treffen könnten. Heute ist es so, dass grundsätzlich die einzelnen Länder alle Entscheidungen für sich selbst treffen, und die EU nur in wenigen Bereichen aktiv wird. Deswegen ist die EU noch nicht föderal. Die EU ist weder in ihren Strukturen, noch rechtlich ein föderaler Staat. 

Die Interessen der Union werden im Europaparlament vertreten, die Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten im Rat. Die beiden Einrichtungen sind aber nicht gleichberechtigt. Die Mitgliedsstaaten haben viel mehr Einfluss auf die Europapolitik als das Europaparlament. Das ist rechtlich geregelt.  Ein weiteres Problem ist, dass es kein “europäisches Volk” gibt – weder rechtlich noch kulturell. Wenn man die deutsche Staatsbürgerschaft hat, ist man zwar auch automatisch auch “Unionsbürger”. Dies bedeutet aber relativ wenig und hat kaum Auswirkungen auf Rechte und Pflichten. Auch kulturell kann man von keinem “europäischen Volk” sprechen. Es gibt keine einheitliche Sprache, keine europäischen Radio- und Fernsehsender und europäische Kulturveranstaltung finden nur im Rahmen der Europameisterschaften im Sport oder beim “Eurovision Song Contest” statt.

Wie ist die Entwicklung aktuell?

Trotz dieser Schwierigkeiten kann man eine Entwicklung zu immer mehr Föderalismus erkennen. Schaut man sich die Geschichte der EU an, so hat sich die EU aus einem losen Zusammenschluss zu wirtschaftlichen Zwecken (der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl) zu einem staatsähnlichen Gebilde mit Gesetzen, Spitzenpolitikern und einer eigenen Verwaltung entwickelt. Diese Entwicklung nennt man Integration. 2005 wollte man einen großen Schritt gehen und der EU eine eigene Verfassung geben. Dies wäre ein großer Schritt hin zu einem europäischen Staat gewesen. Dieser Vorschlag wurde aber von den Bürger:innen aus den Niederlanden und Frankreich abgelehnt und wurde somit nicht umgesetzt. Deswegen ist die EU heute weiterhin ein einzigartiges, nicht föderales Gebilde.

Welche Vorteile bietet ein föderales Europa?

Für noch mehr Verflechtung der EU spricht vieles. Zum Beispiel sind der Euro, der gemeinsame europäische Markt und das europäische Studien-Austauschprogramm Erasmus sehr beliebte europäische Maßnahmen, die eine Vertiefung der europäischen Beziehungen nahelegen. Außerdem werden die Herausforderungen immer drängender und betreffen die ganze Welt: zum Beispiel der Klimawandel, Pandemien und Migration. Wenn alle diese Probleme haben, ist es auch sinnvoll, sie gemeinsam auf einer globalen, zumindest aber europäischen Ebene zu lösen. Die Großmächte Russland, Amerika und China kämpfen zur Zeit um Einfluss, wirtschaftliche Macht und innovationen. Hier kann die EU nur gegen halten, wenn sie sich verbündet.

Letztlich ist ein föderaler Bundesstaat auch demokratiefördernd. Demokratie heißt, dass auch politische Minderheiten an Entscheidungen beteiligt werden. Je höher die Ebene, umso mehr Stimmen muss eine politische Minderheit auf sich vereinen, um ein Mitspracherecht zu haben. Wenn jetzt alle Ebenen untergliedert sind, kann eine politische Minderheit zumindest auf den unteren Ebenen erfolg haben. 

Für eine Entwicklung hin zum europäischen Föderalismus spricht auch der Gedanke, dass Stillstand Rückschritt ist. Genau wie sich die Welt entwickelt, muss sich auch die EU entwickeln

Was spricht dagegen?

Wenn die EU föderalistisch würde, würden die Mitgliedsstaaten viel von ihrer Entscheidungsmacht verlieren. Sie wollen, dass jeder Staat nach seinen Werten und Prioritäten seine Politik entscheiden kann. Zum Beispiel will jeder Staat selber entscheiden, ob Cannabis legalisiert wird oder nicht. Aber auch in der Pandemie gab es viele verschiedene Ansätze, von totalen Lockdowns in Italien zu kaum Beschränkungen in Schweden. Jeder Staat wollte seinen eigenen Weg gehen, einheitliche Maßnahmen wären nicht zustande gekommen. Wenn viele Akteure an der Gesetzgebung beteiligt sind, kann es schneller zu Blockaden von wichtigen Entscheidungen kommen: viele Köche verderben den Brei. Deswegen sind mehrere  Staaten gegen eine föderale EU. 

Das entspricht auch dem Trend zu mehr Nationalismus, also einer Ablehnung von globaler Zusammenarbeit. Der Brexit, also der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, ist ein krasses Beispiel hierfür. Aber auch in Deutschland ist nationaler Populismus als Gegenbewegung zur EU zu Erkennen. Die Alternative für Deutschland (AfD) wurde ursprünglich gegründet, weil man sich gegen den Euro und die EU selbst aussprechen wollte. Insbesondere bei den globalen Themen Migration und Klima möchte jeder Staat das für sich leichteste und beste Recht erschaffen. Ohne die EU müsste Deutschland zum Beispiel keine ausländischen Arbeitskräfte aufnehmen. 

Was sind die nächsten Schritte?

Die Bundesregierung selbst hat sich bisher nicht geäußert, wie sie ihr Ziel eines föderalen europäischen Bundesstaats erreichen will. Sie kann aber in Gesprächen mit anderen Mitgliedsstaaten und EU-Politikern für die föderale EU werben. Auch im Rat kann sich die Bundesregierung für eine Entwicklung hin zu einem föderalen Europa einsetzen. Konkrete Maßnahmen, die die Integration verstärken könnten, sind zum Beispiel transnationale Wahl-Listen und europäische Steuern.

Wichtig ist auch, dass sich die Bürger der EU-Staaten für ihre Vorstellung von Europa einsetzen. Für ein föderales Europa engagieren sich zum Beispiel die Jungen Europäischen Föderalisten und Pulse of Europe, beides überparteiliche Vereinigungen von jungen Europäern. Die EU hat 2021 ein Programm gestartet, die “Konferenz zur Zukunft der EU”, in dem Unionsbürger:innen über eine Plattform und in Präsenz über ihre Vorstellung von der EU diskutieren können. Die EU wird sich dieser Vorschläge dann annehmen und sich in ihrer Politik leiten lassen. Auch Du kannst Dich an der Konferenz beteiligen: futureu.europa.eu. 

Die Grünen möchten die Europäische Union langfristig zu einem Zweikammersystem weiterentwickeln (S.113). Das bedeutet, das Europäische Parlament würde mehr Macht bekommen und neben dem Rat der Europäischen Union, in dem die 27 Regierungschefs zusammenkommen, über die zentralen politischen Fragen entscheiden.

Die FDP spricht sich für einen „föderal und dezentral verfassten Europäischen Bundesstaat“ (S. 62) aus, der eine eigene vom Volk bestätigte Verfassung zur Grundlage hat.

Die SPD spricht sich auch für eine Stärkung der EU aus. Sie möchte ein „solidarische[s] und souveräne[s] Europa erreichen, indem die EU zu einer „echten Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion“ weiterentwickelt wird. (S. 55)

Die CDU möchte die EU handlungsfähig und bürgernah machen (S. 30). Sie ist deshalb für die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments, spricht aber nicht von einer Weiterentwicklung in Richtung eines föderalen Staats. Die CDU ist traditionell dem Leitgedanken der „Subsidiarität“ verpflichtet (S. 30). Das heißt, die EU soll nur dann handeln, wenn sie Probleme besser lösen kann als Kommunen oder Mitgliedsstaaten selbst.     

DIE LINKE möchte eine EU mit einem starken Parlament und umfassenden Beteiligungsmöglichkeiten. Sie fordert dazu eine europäische Verfassung, über die mit europäischen Volksabstimmungen entschieden wird. Die Hürden für Europäische Bürgerinitiativen sollen gesenkt werden. (S. 123)

Die AfD hat zum Ziel, die EU zu einer „Interessengemeinschaft souveräner, lose verbundener Einzelstaaten zu machen“ (S. 30). Sie lehnt ab, die EU zu einem Bundesstaat umzuwanden. „Wir lehnen die „Vereinigten Staaten von Europa“ ebenso ab wie eine EU als Bundesstaat, aus der kein Austritt mehr möglich ist. Unser Ziel ist ein souveränes Deutschland […].“ (S. 31)

Fluter 2021
Und jetzt alle zusammen? Brauchen wir eine föderale EU?, abgerufen am 30.01.2022
https://www.fluter.de/zukunft-eu-f%C3%B6deral-streitgespraech 

BPB (2020)
Föderalismus und EU, abgerufen am 30.01.2022,
https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/176982/foederalismus-und-eu

Junge Europäische Föderalisten (2021).
Grundsatzpapier Föderalismus
https://www.jef.de/foederalismus/ 

Deutsche Welle (2022).
Germany’s goal of a European federal state proves elusive, abgerufen am 30.01.2022,
https://www.dw.com/en/germanys-goal-of-a-european-federal-state-proves-elusive/a-60539427

BPB (2020). 
Etappen der Parteigeschichte der AfD. Abgerufen am 30.1.2022.
https://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/afd/273130/geschichte 

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